Straßenüberquerung auf vietnamesisch

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Hancock
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Straßenüberquerung auf vietnamesisch

#1

Beitrag von Hancock »

Wie kommt man eigentlich in Saigon über die Straße?

Da steht der Ausländer, nennen wir ihn Georg, auf der einen Seite und möchte gerne auf die andere Seite der Straße. Wiederholt hat Georg den Fuß auf den Zebrastreifen gesetzt, doch es bleibt der Eindruck, dass diese Handlung nur die Geschwindigkeit der passierenden Zweiräder erhöht. Lautstark ruft er daher nach dem Vietnamesen, den er auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckt hat. Georg will doch nur wissen, wie man da rüber kommt. Schon dieses Unterfangen nötigt ihm viel Geduld ab bei dem Lärm hier am Centralmarket in Saigon. So will und will der Vietnamese da gegenüber ihn nicht verstehen.

Das kann passieren. Jeden Tag. Und das schon 20 Jahre. Denn so war es auch, als ich das erste Mal dort war. Da hat sich nichts verändert, nur die Mopeds sind schicker, nicht schneller. Und Autos gibt es immer noch nicht, naja wenige. Und so wird es bleiben die nächsten 20 Jahre. Denn Autos passen hier überhaupt nicht rein.

Mit Sicherheit steht am Anfang jeder Gast der Stadt ungläubig vor diesem Straßenchaos. Erst langsam begreift er das System. Wer die Straße überqueren will ohne Ampeln, der sollte damit warten und es nicht am 1.Tag gleich probieren. Denn das ist die schwarze Piste, für Anfänger nicht geeignet.

Man benötigt sehr viel Selbstbewusstsein und vor allem Mut. Beobachtungen von der Straßenseite und Training im Park kann nicht schaden. Irgendwann kommt dann der Tag, man steht am Straßenrand und will hinüber. Eine kleine Aufgabe für den Ungläubigen, eine große Aufgabe für den Gläubigen.

Jeder 1. Schritt Richtung Straße erhöht die Geschwindigkeit der Zweiräder, doch der 2. Schritt beruhigt bereits die Verkehrsgegner. Diese Hürde muss genommen werden. Denn erst jetzt merken die Gegner, sie werden ernst genommen. Der 3. Schritt ist die Eintrittskarte in den Verkehr. Nichts geht mehr zurück. The point of no return. Und das bei drei Schritten von fünfzig manchmal sind es hundert.

Nun heiß es in gleichmäßiger Geschwindigkeit die Richtung einzuhalten. Auf einer Geraden bleiben. Eine Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Es ist keine Kurve. Nicht Verlangsamen, nicht Beschleunigen und vor allem im stumpfen Winkel gegen den Verkehr gehen. Bereits vor Antritt sollte das Ziel gefixt sein, der normale Abtrieb durch den strömenden Verkehr ist hier zu vernachlässigen, ja mehr noch, ihn gilt es zu ignorieren. Immer dagegen halten.

Im stumpfen Winkel die Augen der 1000 Gegner fixieren aber auf keinen Fall ablenken. Sympathiebekundungen oder Beschwerden sind hier völlig fehl am Platze. So kommt man da nie rüber. Tödlich ist dagegen jeder Rückzug. Schon alleine ein Stoppen ist häufig das Ende für viele Verkehrsteilnehmer. Denn keiner stößt mit sich alleine zusammen. Das Stoppen oder noch schlimmer, das rücksichtsvolle Vorbeilassen durch höfliche Verlangsamung mit Verbeugung hat schon manchem Ausländer das Leben gekostet oder zu einer ungewollten Veränderung des Schlafplatzes geführt oder im ungünstigsten Fall die Rückreise beschleunigt. Manchmal in der Waagerechten in Zink liegend.

Also weiter im Verkehr, nur mutig, es sind nur noch 30 Meter. Doch dann kommt ein Auto. Was macht das denn hier, durchzuckt es den Teilnehmer. Ja unglaublich, ein Auto auf der Straße, in diesem Verkehr und es bewegt sich doch. Was tun?

Autos kann man getrost vernachlässigen, sie kriechen dahin, die Besitzer haben Angst vor Kratzern und bremsen alles aus. Sie passen einfach gar nicht hier her. Einfach weitergehen, immer weitergehen. Möglichst das Auto ignorieren, es ist nur groß. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit ist da schon beim Passieren des Autoschattens gefordert. Hier sind erhöhte Geschwindigkeiten zu erwarten im Verkehrsfluss. Stoische Ruhe macht sich breit beim Teilnehmer, ja eine gewisse Arroganz ist zu verspüren, gegenüber denen, denen das hier nie gelingt. Man ist mittendrin und voll dabei.

Rätselhaft bleibt, wie langsam man doch eigentlich geht und wie schnell die Motorbikes rechts und links und vor einem her- und vorbeifahren. Was hinten geschieht weiß man ja nicht, denn umdrehen ist auf keinen Fall ratsam. Geschwindigkeit mal Weg mal Zeit oder war es durch Zeit? Hier kann man was berechnen.

Die andere Seite der Straße kommt in Sicht, die Augen wenden sich bereits dem Ziel zu. Ganz falsch. Im System bleiben, das Ziel nicht ansehen, mit den Füssen berühren ist das Ziel, später. Eventuell die überhöhte Bordsteinkante verpassen und zum Schluss noch fallen? Wie peinlich.

Kinder zu fünft auf dem Moped, keine Fotos machen, nicht jetzt, Lasten-Honda-Dreams, drei Meter breit, eine echte Herausforderung für den inneren Rhythmus. Noch 14 Mopedreihen, höchstens, dann noch acht. Bald sind ist keine mehr, man ist da, auf der andere Straßenseite, da liegt das Ziel. Wer sich da zum Schluss noch unsicher aber siegessicher umdreht, verliert auf den letzten Metern.

Und dann ist es geschafft. Unglaublich. Eine Straßenüberquerung in Saigon außerhalb einer Ampelkreuzung. Dort gibt es ganz andere Bedingungen. Auch sehr eigene. Das ist Hardcore. Doch dazu später.

Leider gibt es noch keine Bänke hier an den Straßen von Saigon. Es würden hier wohl nur noch erschöpfte und angespannte Ausländer sitzen. Die einen, die rüber wollen und die anderen die es hinter sich haben. Langsam wird einem klar, warum man auf der Seite bleibt, wo das Hotel liegt. Da wo man eincheckt, da bleibt man auch. In der Regel. Denn eine Überquerung schafft man nur einmal während seines Aufenthalts. Zurück geht da nichts mehr. Der Flieger warte nicht.

Und Georg?

Schließlich fragt Georg einen Vietnamesen auf seiner Straßenseite, wie das denn geht hier so ohne Ampel, wo doch niemand bremst für einen Fußgänger und wie der dort drüben denn da rüber gekommen ist. „ Der da drüben ist dort geboren“, antwortet der befragte Vietnamese und geht auf seiner Straßenseite des Weges. Schon ein Leben lang.

Quelle: http://www.oxly.de/oxly/?p=4719
Guckt auch mal in den Link, da sind ein paar Fotos drinne. Damit man sich ein Bild machen kann! :super:

Der Text beschreibt das Abenteuer gut. Ich habe es mal so formuliert:
Der erste Eindruck von Hanoi ist neben der fast überall im Lande vorherrschenden Schwüle die Massen an Mopeds. Die Betonung liegt auf Mopeds. Motorräder sind kaum zu sehen. Aber dichtester Verkehr voller Mopeds, das ist ein Anblick, der sehr exotisch war. Exotisch ist es auch, wenn man eine vielbefahrene Strasse überqueren will. Auf eine Lücke zu warten, hat keinen Zweck. Es gibt keine! Also begibt man sich todesmutig auf die Strasse, und überquert sie langsam. Wichtig ist, keine ruckhaften Bewegungen zu machen, oder gar zurück zu gehen! Dann fahren alle Mopeds um einen herum, und man kann halbwechs sicher auf die andere Strassenseite gelangen. Erleichtert wird die Strassenüberquerung aber auch durch die geringe Geschwindigkeit, mit der die Mopeds unterwegs sind. 40 km/Std sind das höchste der Gefühle. Keiner heizt, alles ist im Fluss.
Ist man auf der anderen Strassenseite angekommen, fühlt man sich aber dennoch manchmal wie der kleine Bruder von Superman.

Nachdem wir uns alle nun etwas von der Anreise erholt hatten, sind wir zunächst einmal abends zusammen Essen gegangen. Dabei durften wir dann mehrmals das oben beschriebene Überqueren von Strassen üben - in der verschärfen Form: BEI NACHT!
Die Überquerung einer viel befahrenen Hauptstraße funktioniert in der oben beschriebenen Technik ganz gut, zumindest in Hanoi, wo hauptsächlich Mopeds unterwegs sind. In Saigon kommen die Autos dazu, und das kann eng werden. Hier kann ich dem Schreiber von http://www.oxly.de/oxly/?p=4719 nicht zustimmen. Bei mir wurde es ganz eng, als mir plötzlich ein Wagen entgegen kam. Mit Glück habe ich noch den rettenden Straßenrand erreicht! Nicht einfach, wenn man sich trotzdem nur langsam und ohne Hast bewegen darf, und der Wagen kommt immer näher!
Ich habe mich nach dem Schreck dann auch bemüht, immer auf einer Straßenseite zu bleiben... ;-D

Mandybaer
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Re: Straßenüberquerung auf vietnamesisch

#2

Beitrag von Mandybaer »

Sehr gut beschrieben :super:

Der Verkehr in Vietnam hat sowiso seine eigenen Gesetze, die ein Tourist auf den
ersten Blick niemals begreifen wird.

Bei einem meiner ersten Aufenthalte in diesem wunderschönen Land habe ich mir ein Fahrzeug inkl. Fahrer gemietet, um damit von Saigon
über Hanoi und Hai Phong an die Chinesische Grenze zu fahren.

Dutzende Male musste ich am Anfang dieser Reise meine Augen schließen, als mein Fahrer mit mind. 100 km/h durch eine Ortschaft brauste
wo gerade Schulschluß war, und die Seitenspiegel unseres Autos oft nur um Zenimeter an den Köpfen der am Strassenrand gehenden Knirpse vorbeiflog.

Als ich den Fahrer daraufhin des öfteren ermahnte doch in solchen Situationen ein wenig vom Gas zu gehen, auch beim Überholen von Radfahrern oder
Ochsengespannen war ja jedesmal dasselbe Schauspiel, hab ich nur ehrlich gemeintes Unverständniß geerntet.

Das scheint normal zu sein in diesen Gefielden, und ich weiss auch nicht, haben die elektronische Abstandsmelder in den Vietnamesischen Köpfen
eingebaut oder sonst irgendeine, den westlichen Hemisphären unbekannte Entdeckung eingebaut, auf alle Fälle funtioniert das ( in den meisten Fällen )
unfallfrei. Zumindest habe ich, ausser ein paar kleineren Bauchflecklandungen vom Fahrrad nie gröbere Unfälle sehen können. ;-D

Und bei einem muß ich dem Schreiber unvoreingenommen Recht geben: Bei einer Straßenüberquerung in Saigon muß der Farang mental schon unglaublich gefestigt sein, und ein wenig Buddha-Vertrauen hilft auch ungemein.

Viele Grüße
Mandybär :wink:
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